Zutrauen – Der stille Mut zur Möglichkeit
“Confidence comes not from always being right but from not fearing to be wrong.”
– Peter T. McIntyre
Was bedeutet Zutrauen?
Zutrauen ist mehr als ein freundlicher Gedanke – es ist ein Möglichkeitsraum, der sich öffnet. Laut Duden bezeichnet es den „Glauben, dass jemand bestimmte Fähigkeiten oder Eigenschaften hat, etwas Bestimmtes zu tun oder zu bewältigen“.
Im Unterschied zum Vertrauen, das auf Erfahrung basiert und sich auf die Person an sich richtet, ist Zutrauen eine hypothetisch getroffene Erwartung und bezieht sich auf die möglichen Fähigkeiten einer Person in Bezug auf eine konkrete Situation – ihr Potenzial. Es fragt: „Könnte diese Person das schaffen?“ – nicht: „Hat sie es schon bewiesen?“
Zutrauen ist damit ein Möglichkeitsraum. Und ein Ausdruck von Haltung, für die man sich aktiv entscheiden kann.
Worauf bezieht sich Zutrauen?
Zutrauen ist immer eine Prognose. Es richtet sich auf etwas, das noch nicht geschehen ist – auf eine Fähigkeit, die sich erst zeigen darf. Dabei kann sich Zutrauen auf Fähigkeiten anderer Menschen beziehen („Ich traue ihr zu, das Projekt zu leiten“), auf sich selbst („Ich traue mir zu, diese Herausforderung zu meistern“) oder auf Gruppen und Organisationen („Ich traue unserem Team zu, diesen Wandel zu gestalten“).
Es ist also ein kognitiv komplexer Akt, der Zukunft, Kompetenz und Beziehung miteinander verknüpft. Und: Es ist ein zutiefst subjektiver Prozess, denn unsere Einschätzungen sind nie neutral. Sie sind geprägt von Erfahrungen, Bildern, eigenen und kulturellen Denkmustern – und dadurch auch von Stereotypen und Vorurteilen.
Warum traut man wem mehr oder weniger zu? # BIAS AT WORK
Wenn beispielsweise eine Kollegin im Meeting sehr leise spricht und Pausen dabei macht, sind wir schnell mit einem Urteil zur Hand: Sie ist bestimmt unsicher oder hat keine guten Ideen. Doch eigentlich spricht sie einfach nur überlegt, um Zuhörenden ihre Gedanken sachlich und prägnant zu vermitteln.
Unser Gehirn liebt Schubladen und Denkmuster. Diese Denkmuster wirken tiefer, als uns bewusst ist. Sie öffnen oder schließen sich automatisch, sobald wir auf eine Person treffen. Und genau darin liegt die Gefahr: Wir sehen nicht mehr, wer uns wirklich gegenübersteht. Schubladen machen uns blind – für das, was Menschen tatsächlich ausmacht. Wir glauben, wir beurteilen Fähigkeiten. Doch oft beurteilen wir Rollen, Verhalten, Auftreten – und projizieren unbewusst unsere eigenen Vorstellungen hinein.
Es gibt zahlreiche Studien zu Vorurteile und Diskriminierungen, beispielsweise zeigen Studien aus der Genderforschung: Frauen erhalten niedrigere Leistungsbewertungen, weniger Boni, werden seltener befördert – und ihre Arbeit wird strenger beurteilt (Kanter, 1977; Brescoll, 2016). Selbst wenn sie substanzielle Aufgaben übernehmen, profitieren sie seltener davon (Nelson et al., 2023). Und in Führungsrollen werden Frauen weniger Kompetenz zugesprochen (Eagly & Carly, 2007; Hoyt, 2010). Ihnen wird einfach weniger zugetraut als Männern.
Zutrauen ist also nicht nur ein Gedankenspiel – es hat substanziellen Einfluss, der darüber entscheidet, wer Chancen bekommt und wer nicht. Deshalb ist es so essenziell, innezuhalten, die unbewussten Denkmuster zu unterbrechen und zu fragen: Wem traue ich was zu – und warum eigentlich?
Was passiert, wenn wir nicht zutrauen?
Nicht-Zutrauen ist kein neutraler Zustand – es hat Folgen. Es senkt die Arbeitszufriedenheit, das Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit. Es schwächt das Engagement, die Bindung ans Unternehmen und die Leistung.
Menschen, denen nichts zugetraut wird, erleben sich als weniger kompetent – und verhalten sich auch so.
Nicht-Zutrauen ist also nicht nur ein psychologisches Problem – es ist ein kulturelles und wirtschaftliches Risiko.
Was passiert, wenn wir zutrauen?
Zutrauen aktiviert. Es stärkt das Gefühl von Kompetenz, fördert Eigenverantwortung und schafft Räume für Entwicklung.Menschen, denen etwas zugetraut wird, wachsen oft über sich hinaus – nicht, weil sie müssen, sondern weil sie dürfen.
Und wenn sich das Zutrauen irrt? Dann lernen wir und es kann Entwicklung entstehen. Denn es wird sichtbar, was vorher unsichtbar war.
Zutrauen ist also kein Risiko, sondern eine Einladung, Potenzial zu entdecken – auch dort, wo wir es nicht vermutet hätten.
Wie man den Wert Zutrauen priorisieren kann
Zutrauen als Wert zu priorisieren heißt, nicht nur auf das Sichtbare zu reagieren, sondern das Mögliche einzuladen sich zu zeigen.
Es bedeutet, sich bewusst zu machen, wie subjektiv unsere Einschätzungen sind – und wie sehr sie von unseren subjektiven Denkmustern geprägt sein können.
Zutrauen bedeutet demnach, diese inneren Denkmuster zu hinterfragen und den Mut zu haben, Menschen und Situationen neu zu sehen – jenseits von Schubladen, Stereotypischem oder Erwartbaren. Wer sich das zutraut, öffnet Räume: für das Potenzial, für ein neues Kennenlernen, das neue Möglichkeiten schafft.
Es heißt auch, Räume zu schaffen, in denen Menschen über sich hinauswachsen dürfen. Zutrauen muss kein blindes Vertrauen sein – sondern ein bewusstes Ermöglichen. Ein stiller Mut zur Entwicklung.
Liebe Unternehmen, liebe Führungskräfte und liebe alle: Achtet besonders darauf, wem ihr was NICHT zutraut. Denn dieser Glaube ist oft trügerischer als alles andere.
Seid gern spendabel mit Zutrauen: Traut Menschen etwas zu, von denen ihr es nicht glauben würdet – und lasst euch überraschen, was Wundervolles daraus entstehen kann.
Wem in Deinem Umfeld traust Du (noch) nichts zu – und warum eigentlich?