Zutrauen ermöglichen – Wie Zeitperspektiven Führung verändern
In Organisationen zeigt sich ein Widerspruch: Einerseits fördern sie Selbstorganisation und Eigenverantwortung – Haltungen, die Zutrauen voraussetzen. Andererseits prägen Kontrollsysteme und Zielvorgaben den Alltag. Führungskräfte beklagen „fehlende Selbstständigkeit“, Mitarbeitende erleben mangelndes Vertrauen. Dieser Widerspruch verweist auf ein Missverständnis: Zutrauen gilt oft als Ergebnis vergangener Bewährung („Ich traue dir, weil du dich bewährt hast“) oder als Hoffnung auf die Zukunft („Ich glaube an dich“). Beide Sichtweisen verfehlen die eigentliche Zeitstruktur des Zutrauens.
Die zentrale Frage lautet daher: Wie lässt sich Zutrauen kultivieren, wenn es weder auf Beweise noch auf Garantien reduziert werden kann? Die Antwort liegt in einem differenzierten Verständnis der Zeit.
Zeit als Schlüssel: Verschiedene Perspektiven verstehen
Zutrauen geht nicht von der Eindeutigkeit der Welt aus, sondern davon, Unterschiede wahrzunehmen. Das gilt auch für die Zeit. Wer die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf sich selbst anwendet, entdeckt verschiedene Perspektiven:
Gegenwärtige Vergangenheit: Wie erinnere und deute ich Vergangenes aus heutiger Sicht?
Gegenwärtige Gegenwart: Wie erlebe ich meine Beziehungen und Situationen in diesem Moment?
Gegenwärtige Zukunft: Welche Möglichkeiten und Optionen erscheinen mir jetzt offen?
Zukünftige Gegenwart: Wie werde ich meine jetzigen Vorstellungen oder Pläne erleben, wenn sie einmal Wirklichkeit geworden sind?
Zukünftige Zukunft: Welche neuen Chancen oder Möglichkeiten könnten sich aus dieser künftigen Situation ergeben?
Diese Unterscheidungen helfen, Zutrauen präziser zu verstehen und von bloßer Prognose oder naiver Hoffnung zu unterscheiden.
Die Zukunft in der Gegenwart
Elena Esposito beschreibt in „Die Zukunft der Futures“, dass Zukunft paradoxerweise nur in der Gegenwart existiert – als Projektion, Erwartung und Konstruktion. Sie ist nie gegenwärtig, aber immer ein Produkt der Gegenwart.
Wenn wir jemandem etwas zutrauen, entwerfen wir in der Gegenwart eine Vorstellung einer künftigen Situation, in der die andere Person verantwortlich handelt. Gleichzeitig wissen wir, dass diese Zukunft anders verlaufen kann. Esposito nennt das die „Zukunft der Zukunft“ – die unaufhebbare Offenheit der Zeit.
Zutrauen bedeutet, mit dieser doppelten Unsicherheit umzugehen:
Wir konstruieren eine bestimmte Zukunft (gegenwärtige Zukunft)
Wir wissen: Die tatsächliche Zukunft (zukünftige Gegenwart) wird anders sein
Moderne Gesellschaften haben verschiedene Mechanismen entwickelt, um mit dieser Unsicherheit umzugehen – Versicherungen, Prognosen, Verträge.
Zutrauen ist ein anderer Mechanismus: Es akzeptiert die Ungewissheit und überbrückt sie durch eine soziale Bindung, nicht durch Informationsbeschaffung oder Risikokalkulation. In Organisationen versuchen viele, Zutrauen durch Information zu ersetzen: "Ich vertraue dir, weil ich Daten habe, die zeigen, dass du verlässlich bist." Das ist kein Zutrauen, sondern Kalkulation. Echtes Zutrauen beginnt dort, wo die Information endet – wo wir trotz Unwissen eine bestimmte Zukunft für möglich halten und danach handeln.
Wirklichkeit konstruieren wir interaktiv
Zutrauen basiert nicht allein auf Fakten. Es hängt davon ab, wie wir vergangene Ereignisse deuten und Zukunft entwerfen. Wirklichkeit ist kein objektiv vorgegebenes Terrain, sondern Ergebnis gemeinsamer Deutung. Zutrauen ist Teil dieser interaktiven Konstruktion: Es erkennt an, dass „es auch anders sein könnte“, und hält dennoch eine bestimmte Zukunft für plausibel. Diese Haltung beeinflusst unser Handeln – und damit die Entwicklung des Anderen.
Drei zentrale Thesen zum Zutrauen
These 1: Zutrauen richtet sich auf das, was möglich ist – nicht auf das, was war.
Häufig knüpfen Menschen Zutrauen an vergangene Leistungen ("Du hast das schon oft geschafft"). Diese Logik verwechselt Zutrauen mit Prognose. Solches "Vertrauen" bezieht sich auf die gegenwärtige Vergangenheit – die Art, wie ich heute über Damals denke.
Echtes Zutrauen richtet sich auf die gegenwärtige Zukunft – den Möglichkeitsraum, den ich jetzt als offen wahrnehme. Zutrauen konstruiert eine bestimmte zukünftige Gegenwart und handelt danach, obwohl diese Konstruktion unsicher ist.
Praktisch: Organisationen, die Zutrauen an KPIs und Bewertungen binden, fixieren sich auf gegenwärtige Vergangenheit. Sie reduzieren die gegenwärtige Zukunft auf Fortschreibung der Vergangenheit. Echtes Zutrauen zeigt sich dort, wo Menschen Neues ausprobieren dürfen – wo die zukünftige Zukunft (die Offenheit der Offenheit) anerkannt wird.
These 2: Zutrauen entsteht im Moment der Begegnung – nicht in Berichten über Vergangenes oder Pläne für Kommendes.
Die gegenwärtige Gegenwart ist der einzige Ort, an dem Zutrauen entstehen kann. Weder Erinnerungen noch Hoffnungen erzeugen Zutrauen – nur die Qualität der aktuellen Begegnung. Wenn ich jemandem zutraue, konstruiere ich in diesem Moment eine bestimmte zukünftige Gegenwart. Diese Konstruktion wird zur sozialen Realität. Sie beeinflusst Entwicklung.
Praktisch: Führungskräfte müssen in der Interaktion präsent sein. Ritualisierte Feedbackgespräche operieren oft mit gegenwärtiger Vergangenheit ("Was war?") und abstrakter gegenwärtiger Zukunft ("Was soll sein?"). Sie verfehlen die gegenwärtige Gegenwart – den Moment der Begegnung, in dem Resonanz entstehen kann.
These 3: Zutrauen heißt, Kontrolle zu begrenzen.
Kontrolle versucht, die gegenwärtige Zukunft (was ich jetzt plane) mit der zukünftigen Gegenwart (was dann sein wird) zur Deckung zu bringen. Das ist unmöglich. Die zukünftige Gegenwart hat ihre eigene Zukunft – die zukünftige Zukunft, die prinzipiell offen ist. Zutrauen heißt, diese Offenheit anzuerkennen. In komplexen Systemen erzeugt Kontrolle neue Unwägbarkeiten. Das Paradox: Organisationen, die weniger kontrollieren, können mehr vertrauen – weil sie die Differenz zwischen ihren Projektionen und der künftigen Realität nicht leugnen.
Praktisch: Delegation ist Kontrollverzicht als bewusste Strategie. Zutrauen zeigt sich in der Bereitschaft, die zukünftige Gegenwart dem Anderen zu überlassen – mit all ihren unvorhersehbaren Elementen.
Fazit
Zutrauen ist keine naive Hoffnung. Es ist die bewusste Gestaltung der Zukunft in der Gegenwart. Für Organisationen heißt das:
Führungskräfte lernen, zwischen Zeitperspektiven zu unterscheiden. Zutrauen zeigt sich in der Qualität der Begegnung, nicht in Kontrolle.
Personalentwickler prüfen, welche Zeitlogiken ihre Systeme prägen. Fokussieren sie auf Vergangenheit oder eröffnen sie Zukunft?
Organisationsentwickler schaffen Räume, in denen die Gegenwart als Resonanzraum erlebbar wird.
In einer Zeit beschleunigter Veränderung ist zeitbewusstes Zutrauen Notwendigkeit. Organisationen, die es kultivieren, ermöglichen die Offenheit der Zeit als Raum für Verantwortung und Neuanfang.
Literatur
Elena Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität (2007). Suhrkamp.
Elena Esposito: Die Zukunft der Futures (2010). Carl-Auer.
Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (1976). Piper.
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2016). Suhrkamp.