Fünf Wege der Werteorientierung in Organisationen
Die Arbeit mit Werten in Organisationen stellt oft eine Herausforderung dar. Viele Unternehmenswerte bleiben lediglich Dekoration, da sie entweder nicht in den ökonomischen Code passen, zu Ideologien verhärten oder Führung es versäumt, sie in konkreten Handlungssituationen zu verankern. Wie Unternehmen diese Klippen umschiffen und Werte zu einer echten Stärke machen können, wird im Folgenden beleuchtet.
1. Harte vs. weiche Werte: Der ökonomische Filter
„The soft ones are the real hard ones“ – hinter dieser Aussage verbirgt sich die Erkenntnis, warum manche Werte nur bei gutem Wetter zählen. In unserer Gesellschaft funktionieren wichtige Funktionssysteme (Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft) nach spezifischen Codes, welche die Relevanz von Kommunikationsinhalten bestimmen.
Beispiele für diese Systemcodes sind:
Rechtssystem: rechtmäßig oder unrechtmäßig
Wissenschaft: wahr oder falsch
Wirtschaft: Zahlung oder keine Zahlung
Für Unternehmen bedeutet dies, dass nur Inhalte, die sich in Zahlen, Kosten oder Gewinnen ausdrücken lassen, beinahe automatisch Aufmerksamkeit erhalten. Werte wie Qualität, Effizienz oder Innovationskraft lassen sich messen und stehen in direktem Bezug zur Wirtschaftlichkeit. Deshalb werden sie als „harte“ Werte eingestuft.
Weiche Werte müssen sich rechnen
Werte, die schwieriger greifbar sind, wie Wertschätzung, Vertrauen oder Gemeinwohl, bringen nicht unmittelbar Geld ein und werden im Wirtschaftsalltag daher oft ausgeblendet. Das geschieht nicht aus Böswilligkeit, sondern weil diese Werte nicht in das gängige ökonomische Denksystem passen.
Um dennoch zu wirken, müssen weiche Werte mit dem Unternehmenserfolg verknüpft werden. Wenn etwa gezeigt werden kann, dass Vertrauen Risiken reduziert, Wertschätzung die Motivation steigert oder Gemeinwohl die Marke stärkt, werden sie relevant. Die Systemtheorie bezeichnet diesen Prozess als „ökonomisch mediatisieren“ – weiche Werte müssen wirtschaftlich sinnvoll übersetzt werden.
Werte funktionieren nicht als reine Dekoration. Sie müssen zum Handeln und den Zielen des Unternehmens passen. Wer nur moderne Schlagworte in die Unternehmenskultur schreibt, ohne sie mit Leben zu füllen, riskiert, dass Mitarbeitende zynisch werden und das Vertrauen schwindet.
Wertearbeit verlangt Klarheit darüber, was man will, Ehrlichkeit darüber, was man lebt, und die Fähigkeit zu zeigen, warum dies nicht nur „nett“, sondern auch wirtschaftlich klug ist.
2. Die Gefahr der Werte-Ideologie: Werte als Hauptstraßen zum Sinn
Werte wirken anziehend, weil sie Qualitäten repräsentieren, die breite Zustimmung finden. Sie scheinen eine stabile Grundlage für Einigkeit zu bieten. Allerdings lauert darin auch eine Gefahr: „Certainty is the enemy of unity“, so Robert Harris. Wenn Leitsätze wie „Wir leben Agilität“ oder „Führungskräfte führen mit Vertrauen“ als unumstößliche Wahrheiten behandelt werden, entsteht Intoleranz gegenüber abweichenden Sichtweisen. Wer unbeirrbar an eigenen Überzeugungen festhält, weist andere Meinungen zurück.
Der Versuch, vagen Deutungen durch eine zu genaue Ausformulierung der Werte vorzubeugen, ist kaum sinnvoll, da dies Werte in starre Verhaltensregeln verwandelt. Judith Muster beschreibt dieses Dilemma: „Werte unterliegen einem Dilemma. Sie verlieren durch eine Übersetzung in konkrete Regeln das Werthafte".
Noch heikler wird es, wenn Werte moralisch aufgeladen werden und zum Selbstzweck verkommen. In solchen Fällen entsteht sozialer Druck; wer dazugehören will, muss bestimmte Haltungen sichtbar leben, und kritische Diskussionen über "die gemeinsame Kultur" sind nicht mehr erlaubt. Werte werden (oft durch aufwendige Kulturprogramme) „heilig gesprochen“.
Wie Viktor Frankl feststellte, sind Werte jedoch „Hauptstraßen zum Sinn“, nicht der Sinn selbst.
Der Schlüssel ist der Dialog
Der Philosoph Andreas Urs Sommer betont, dass Werte gerade weil sie interpretationsbedürftig sind, den Dialog über sie fördern. Ihre Offenheit schützt vor Verhärtung. Der Schlüssel liegt demnach nicht in der Formulierung von Werten, sondern in der Qualität des Gesprächs über sie.
Sinnvolle Dialoge behandeln Gegensätze und Widersprüche. Beispiele für produktive Fragen sind:
Wo brauchen wir mehr Agilität – und wo bewährte Strukturen?
Wie lässt sich Vertrauen mit angemessener Kontrolle verbinden?
Wann ist Teamwork hilfreich – und wann nicht?
Absolute Gewissheiten gefährden die Zusammenarbeit. Was Organisationen stärkt, ist ein offener Dialog über Unsicherheiten und Widersprüche zu den eigenen Werten.
3. Verantwortung liegt im Zwischenraum: Umgang mit Polaritäten
Das Festhalten am vermeintlich „Guten“ auf Kosten des Gegensätzlichen macht Organisationen und Teams einseitig und anfällig. Ebenso problematisch ist der Reaktionsmodus, bei dem Führungskräfte hektisch zwischen gegensätzlichen Werten hin- und herschwanken, statt bewusst zu entscheiden.
Verantwortungsvoll führen bedeutet, mit Gegensätzen arbeiten zu können. Organisationen bewegen sich ständig zwischen Polen wie Stabilität vs. Veränderung oder Kontrolle vs. Vertrauen. Wie bei einer Kompassnadel, die immer zwei Richtungen anzeigt, ist die entscheidende Frage nicht die Wahl zwischen Nord und Süd, sondern: „Wohin wollen wir?“. Der geschickte Navigator nutzt beide Richtungen, um den Kurs zu halten.
Kurt Lewin formulierte, dass „Veränderung und Stabilität keine Gegensätze, sondern ergänzen sich in einem dynamischen System“. In Organisationen ist es nicht möglich, gegensätzliche Werte gleichzeitig umzusetzen; jede Entscheidung beinhaltet immer einen teilweisen Verzicht auf etwas anderes.
Verantwortliches Handeln zeichnet sich durch die bewusste Bewegung im Spannungsfeld aus. Wer in Polaritäten denkt, bleibt beweglich und verliert sich nicht in Ideologien.
Konkrete Schritte für werteorientierte Organisationsentwicklung (OE) beinhalten:
Analyse: Nutzung von Modellen, die Polaritäten und Paradoxien gerecht werden.
Ziele definieren: Klärung, welche Werte mit welchen Kosten Priorität erhalten, mittels Richtungsaussagen wie „Weg von … / Hin zu …“.
Lösungen entwickeln: Einsatz von Methoden, die Perspektivenvielfalt fördern, z. B. Tetralemma (hier findest Du mehr zur Methode) oder Kraftfeldanalysen.
Dialog fördern: Teams befähigen, Spannungen produktiv zu nutzen.
Ambiguitätstoleranz trainieren, um besser mit Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten umzugehen.
4. Kulturentwicklung über Entscheidungsprämissen
Kulturveränderung beginnt mit einem klaren Verständnis davon, was eine Organisation ist. Eine Organisation kann als soziales System betrachtet werden, das sich durch Entscheidungen reproduziert und nicht aus Individuen besteht.
Ein Wert wie „Vertrauenskultur stärken“ ist nicht einfach zu haben. Vertrauen ist immer eine Entscheidung gegen Kontrolle. Das Wertvolle im Wert entsteht erst durch diese Wahlmöglichkeit. Kultureller Wandel in diesem Beispiel ist eine Bewegung hin zu Vertrauen und weg von Kontrolle.
Die Masterfrage für Kulturveränderung lautet: Wie wird es wahrscheinlicher, dass sich Organisationsmitglieder häufiger FÜR (Wert) und GEGEN (Gegenwert) entscheiden?.
Viele Kulturprogramme enden nach Diskussionen mit der Lösung: „Wir müssen es besser vorleben". Was fehlt, ist die Verknüpfung der Werte mit den konkreten Situationen der Arbeitsrealität.
Organisationen setzen Rahmen für die Entscheidungen ihrer Mitglieder, die sogenannten Entscheidungsprämissen (mehr über Entscheidungsprämissen findest Du hier).
Diese wirken als „unsichtbare Spielregeln“, welche die Freiheit begrenzen, aber dennoch Spielraum lassen.
Man kann drei Arten von Prämissen unterscheiden:
Programme: Vorgaben wie Prozesse, Strategien oder Zielsysteme. Beispiel: Jede/r entscheidet eigenverantwortlich über Homeoffice-Tage, solange die Teamziele erreicht werden.
Kommunikationswege: Wer entscheidet was? Wie sind Aufgaben verteilt? Beispiel: Entscheidungen zu Reklamationen dürfen ohne Absprache getroffen werden.
Personal: Entscheidungen zur Besetzung von Rollen. Beispiel: Frau A wird als Teamleiterin eingesetzt, weil ihr im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit vertraut wird.
Kulturveränderung funktioniert nicht nur über Kommunikation oder gute Vorsätze, sondern durch die Veränderung dieser Entscheidungsprämissen in konkreten Situationen. Dadurch wird die gewünschte Richtung hin zu einem bestimmten Wert wahrscheinlicher.
5. Führung als bewusste Störung von Normen
Wie bei Menschen schleichen sich auch in Organisationen Gewohnheiten ein. Normen regeln konkretes Verhalten und übersetzen Werte wie "Kundenorientierung" in stabile Verhaltenserwartungen. Obwohl Normen nicht einklagbar sind, führt ihr Bruch zu Konsequenzen wie irritierten Blicken, fragenden Kommentaren oder sozialem Ausschluss.
Normen dienen dazu, Komplexität zu bearbeiten. Da ein System nicht auf alles reagieren kann, bilden sich Muster im Umgang mit den Umwelten, um Komplexität zu reduzieren. Gelerntes schlägt sich in diesen Normen nieder.
Die Störung etablierter Normen
Der eigene Erfolg kann etablierte Normen infrage stellen. Ist die interne Norm anfangs zum Erreichen von Wachstum noch "Jeder Kunde ist König", geraten Mitarbeitende bei zunehmender Kundenzahl in Dilemmata.
Hier greift Führung ein. Ihre Aufgabe ist es, Muster und Routinen zu hinterfragen und etablierte Normen bewusst in Frage zu stellen, da das, was gestern erfolgreich war, heute zum Hindernis werden kann (hier findest Du eine Methode, um Normen "unter die Lupe" zu nehmen). Führung erkennt die Notwendigkeit zur Anpassung und schafft Raum für Veränderung, selbst wenn dies Unsicherheit auslöst.
Timm Richter und Torsten Groth unterscheiden daher:
Ordnung von Führung („im System“): Stabilisiert bestehende Normen, sorgt für Kontinuität und sanktioniert Abweichungen.
Ordnung von Führung („am System“): Verändert die Spielregeln. Die Funktion liegt in der bewussten Anpassung, dem Weglassen oder Neudefinieren von Normen. Die Methode ist gezieltes Irritieren etablierter Muster.
Die entscheidende Praxisfrage für Führung lautet: Welche Norm möchte ich bewusst verändern, irritieren oder ersetzen?
Werteorientierte Führung achtet auf Normen und stört diese gezielt, um Anpassung zu ermöglichen. Dies ist intelligentes Lernen mit Richtung und ein bewusster Entwicklungsprozess, der Zukunftsfähigkeit erhält.
Abschließende Zusammenfassung
Nach dieser Auseinandersetzung steht fest: Werte funktionieren nicht als Deko.
Die wichtigsten Erkenntnisse zur Werteorientierung in Organisationen sind:
Harte vs. weiche Werte: Werte, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen, müssen wirtschaftlich übersetzt werden (ökonomisch mediatisiert).
Vorsicht vor Ideologie: Wenn Werte als absolute Wahrheiten gelten, entsteht Intoleranz. Stärker ist der offene Dialog über Widersprüche.
Verantwortung in der Polarität: Organisationen bewegen sich zwischen Gegensätzen wie Vertrauen vs. Kontrolle. Gute Führung navigiert bewusst in diesem Spannungsfeld.
Konkret handeln: Kulturveränderung funktioniert nicht über Philosophie, sondern durch die Beantwortung der Masterfrage: Wie wird es wahrscheinlicher, dass sich Mitarbeitende FÜR einen Wert und GEGEN seinen Gegenwert entscheiden?.
Führung als Störung: Führung hat die Aufgabe, etablierte Normen gezielt zu irritieren, um die Anpassungsfähigkeit der Organisation zu gewährleisten.
Werte sind Hauptstraßen zum Sinn – nicht der Sinn selbst. Sie benötigen Dialog, Widerspruch und vor allem: konkrete Situationen, in denen sie lebendig werden.