Verantwortung in Organisationen: Fünf Perspektiven für echte Verantwortungsübernahme
„Übernehmen Sie mehr Verantwortung!" – eine Forderung, die wir kennen. Aber was heißt das konkret? Warum scheitert Verantwortungsübernahme so oft? Und was brauchen Menschen in Organisationen, um verantwortlich zu handeln?
Verantwortung ist mehr als eine Führungsphrase. Sie entfaltet sich zwischen Person und Rolle, zwischen Fragen und Antworten, zwischen Macht und Ohnmacht. Nachfolgend fünf Perspektiven, die zeigen, wie Verantwortung in Organisationen funktioniert – und wo die häufigsten Fallstricke lauern.
Ver-ANTWORT-ung: Warum Verantwortung mit einer Frage beginnt
Im Wort Ver-Antwort-ung steckt das Wort Antwort. Verantwortung beginnt dort, wo wir bereit sind, Fragen zu stellen – und sie ehrlich zu beantworten.
Nichts ist tödlicher als klare Antworten
Klare Antworten beenden das Denken. Sie schaffen Sicherheit – und verhindern Lernen. Vermeintlich sicheres Wissen über Märkte, Kunden oder Konkurrenz führt in den Kollaps. Erfahrung hilft, ein Unternehmen erfolgreich zu führen. Untergangsgeschichten gründen sich im Festhalten an überholten Erfahrungen. James G. March beschrieb dieses Muster in seiner Theorie der „zwei Seiten der Erfahrung".
Verantwortlich handeln heißt, Überlebensfragen zu stellen
Nur wer Annahmen und Routinen regelmäßig hinterfragt, gestaltet Zukunft und handelt verantwortlich. In Organisationen bedeutet das: Auf Marktveränderungen, interne Irritationen und Herausforderungen antworten – statt nur Symptome verwalten.
Verantwortung wird dann zu einer Fähigkeit (response-ABILITY!) des Systems, sich hinterfragend zu beobachten und so Überlebensfähigkeit zu sichern.
Auch auf individueller Ebene gilt:
Kann ich in meiner Rolle so weitermachen?
Was passiert, wenn ich nichts ändere?
Welche Entwicklungen in der Umwelt wirken auf mich und meine Rolle ein?
Erfülle ich in meiner Rolle noch den Auftrag?
Diese Fragen sind unbequem – dort beginnt echte Verantwortung. Viktor Frankl formulierte es so: Das Leben stellt dem Menschen Fragen. Er hat nicht zu fragen. Er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat.
Die Verwechslung von Verantwortung und Verantwortlichkeit
Doch selbst wenn wir bereit sind, die richtigen Fragen zu stellen, scheitert Verantwortungsübernahme oft an einem grundlegenden Missverständnis. „Warum bekomme ich die Aufgabe zurück delegiert? Ich habe die Verantwortung doch klar übergeben!” So klagen Führungspersonen. Was läuft schief?
Oft liegt es daran, dass zwei Dinge vermischt werden: Verantwortung und Verantwortlichkeit.
Der entscheidende Unterschied
Verantwortlichkeit = Rechenschaftspflicht
Wir weisen eine Pflicht oder Aufgabe zu, die eingefordert werden kann
Wer steht für die Folgen einer Entscheidung ein? Wen können wir sanktionieren, wenn etwas schiefgeht?
Zeitpunkt: Nach der Entscheidung
Verantwortung = Innere Bereitschaft zur Risikoübernahme
Wer trifft die Entscheidung unter Unsicherheit? Wer absorbiert fehlende Informationen durch Entscheidungen?
Zeitpunkt: Im Moment der Entscheidung
Diese Unterscheidung macht deutlich: Verantwortlichkeit lässt sich formell zuweisen („Du bist zuständig für die Projektergebnisse."). Verantwortungsübernahme geschieht freiwillig. Niemand kann zu Entscheidungen gezwungen werden.
Drei typische Probleme durch die Verwechslung
„Halbe" Delegation: Die Führungskraft gibt Verantwortung ab, bleibt aber für die Ergebnisse verantwortlich. Die Gefahr: Eigenständig getroffene Entscheidungen werden einkassiert, weil sie gewisse Grenzen überschreiten. Dies demotiviert und verringert die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme.
Scheu vor der Verantwortlichkeit: Beides wird übertragen. Die Verantwortung wird nicht wahrgenommen, weil Mitarbeitende bei kritischen Fragen keinen Fehler machen möchten. Sie treffen keine oder nur risikoarme Entscheidungen. Die relevanten Entscheidungen delegieren sie zurück. Die Führungskraft kommt zur Annahme: „Ich muss alles alleine entscheiden!"
Grenzen werden überschritten: Beides wird übertragen, aber Mitarbeitende überschreiten die Grenzen der Verantwortung. Hier sitzen beide – Mitarbeitende und Führungskraft – in einer Zwickmühle. Es ist richtig und wird eingefordert, eigenständige, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Und es ist falsch, weitreichende Entscheidungen zu treffen.
Die Lösung in zwei Schritten
Schritt 1: Zur Verantwortung kann man nicht zwingen, aber einladen. Diese Einladung beginnt mit der Klärung der Frage(n), auf die es Antworten zu finden gilt. Markieren Sie jene Fragen, für die keine Antwort gefunden werden soll oder für die andere verantwortlich sind.
Schritt 2: Klären Sie beide Dimensionen in der Delegation:
Welche Verantwortung übernimmt die Person?
Welche Verantwortlichkeit übernimmt sie?
Wo liegen die Grenzen – und was passiert, wenn sie überschritten werden?
Niklas Luhmann stellte fest: Wirkliche Verantwortung setzt die Möglichkeit voraus, anders zu handeln.
Die vier Zutaten für echte Verantwortungsübernahme
Die Unterscheidung zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit ist ein erster Schritt. Doch was macht Verantwortungsübernahme tatsächlich wahrscheinlicher? Die Antwort liegt im Spannungsfeld von Erwartungen und Kommunikation.
Wer Verantwortung übernehmen soll, muss wissen, was von ihm erwartet wird. Vier Dimensionen sind zu klären:
1. WOLLEN – Die persönliche Motivation
Will ich Antworten auf die betreffenden Fragen geben?
Was motiviert mich daran?
Kann ich mich damit identifizieren?
Ohne intrinsische Bereitschaft funktioniert es nicht.
2. KÖNNEN – Die Handlungsfähigkeit
Kann ich das?
Verfüge ich über die nötigen Kompetenzen?
Verstehe ich den Kontext?
Wer nicht handlungsfähig ist, kann keine Verantwortung tragen – nur den Druck spüren.
→ Diese beiden Zutaten sind persönliche Voraussetzungen zur Verantwortungsübernahme.
3. DÜRFEN – Der Handlungsspielraum
Habe ich die Befugnisse und Ressourcen?
Bin ich autorisiert?
Verantwortung ohne Handlungsspielraum führt zu Ohnmacht.
4. SOLLEN – Die Rechenschaftspflicht
Ist definiert, wofür ich wem gegenüber Rechenschaft schulde?
Ohne Klarheit über Erwartungen entsteht Beliebigkeit. Hier ist die zuvor beschriebene Verantwortlichkeit gemeint.
→ Diese Zutaten rechnen wir der Organisation zu.
Die Konsequenzen fehlender Zutaten
Wer will, aber nicht darf, resigniert. Wer soll, aber nicht kann, scheitert. Wer darf, aber nicht will, macht Dienst nach Vorschrift. Nur wenn alle vier Zutaten (nach Dr. Bernd Schmid) vorhanden und geklärt sind, lässt sich Verantwortung sinnvoll übernehmen.
Verantwortung ist kein Status – sondern ein Prozess
In komplexen Organisationen verändert sich Verantwortung ständig. Sie ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der sich je nach Kontext und Situation wandelt.
Deshalb reicht es nicht, Verantwortung einmalig zu klären und dann als erledigt zu betrachten. Was es braucht, ist ein kontinuierlicher Verantwortungsdialog – ein Raum, in dem implizite und unklare Verantwortungsstrukturen transparent gemacht, Missverständnisse geklärt und Konflikte konstruktiv bearbeitet werden.
Rollenkompetenz: Die unterschätzte Schlüsselqualifikation
Selbst wenn alle vier Zutaten geklärt sind, bleibt eine zentrale Herausforderung: die Fähigkeit, zwischen Person und Rolle zu unterscheiden. „Ich bin authentisch. Ich zeige mich, wie ich bin – mit allen Emotionen. Das macht mich zur guten Chefin", sagte eine Bereichsleiterin. Zwei Monate später: Burnout. Das Problem? Sie verwechselte Person und Rolle.
Rollenkompetenz – die Fähigkeit, zwischen Person und Rolle zu differenzieren – ist die am meisten unterschätzte Schlüsselqualifikation zur Verantwortungsübernahme in Organisationen. Organisationen tun so, als würde diese Kompetenz vom Himmel fallen.
Drei Arten, wie wir Rolle und Person verwechseln
Die Authentizitätsfalle: „Ich bin immer total echt!"
Die Führungskraft trägt ihre persönlichen Emotionen ungefiltert ins Team.
Erwartung: Authentizität baut Vertrauen
Realität: Sie baut eigenen moralischen Druck auf
Jedes Handeln in der Führungsrolle wird existenziell. Es geht nicht mehr nur um die Rolle, sondern um mich.
Die Identifikationsfalle: „Ich bin mit Haut und Haaren Senior Consultant!"
Die Person kann ihre Rolle nicht mehr beschreiben, ohne sich selbst zu beschreiben.
Problem: Wer sich als Person mit einer Rolle identifiziert, macht sich kleiner als er ist
Folge: Enttäuschungen, weil Organisationen primär an der Rolle interessiert sind, nicht an der „ganzen Person"
Die Selbstwertfalle: „In erster Linie geht es um MEINE Bedürfnisse!"
Zufriedenheit durch Selbstzufriedenheit klingt verlockend.
Falle: Wer seine Arbeit primär daran misst, ob sie die eigene Leistung würdigt, macht sich abhängig
Risiko: Menschen machen sich von der Wertschätzung anderer abhängig, müssen gelobt und gepriesen werden
Warum Rollenkompetenz beiden Seiten nützt
Rollenkompetenz wird kaum systematisch geschult. Dabei sind Organisationen darauf angewiesen, dass Mitglieder Rollen einnehmen und die Distanz zwischen sich und der Rolle bewusst regulieren können.
Der Mangel an Rollendistanz führt dazu, dass Menschen in Organisationen mehr suchen, als diese geben können. Klaus Eidenschink nennt dieses Phänomen „Die Organisation als ideale Eltern". Sie erwarten Anerkennung, Sinn, Heilung – und überfordern damit sich selbst und die Organisation.
Ein emotional gesunder Mensch (nach The School of Life Berlin):
sucht in der Arbeit nicht danach, gesehen oder bestätigt zu werden – er weiß, dass er wertvoll ist, ohne Erfolgsbeweis
muss sich nicht durch Arbeit ausdrücken – er wird im Privatleben gehört, verstanden und ernst genommen
braucht keine Macht, um sich ganz zu fühlen, und fürchtet sie auch nicht – er kann führen ohne Schuldgefühle und folgen ohne Misstrauen
Mit Rollenkompetenz gewinnen beide: Die Organisation erhält verantwortungsbewusste Mitglieder. Der Mensch gewinnt Freiheit – und schützt seine psychische Gesundheit.
Macht: Das verdrängte Fundament von Verantwortung
Bleibt eine letzte, oft verdrängte Dimension: Macht. Organisationen brauchen handlungsfähige Menschen in Rollen, schweigen aber über die notwendigen Machtmittel. Über Macht spricht man nicht. Macht erscheint moralisch verdächtig. Aber das Problem ist nicht Macht, sondern Machtlosigkeit.
Wer Verantwortung übernehmen soll, aber keine Macht hat, wird zum Getriebenen. Die Folge: moralischer Druck, Erschöpfung und Zynismus.
Zwei Perspektiven auf Macht in Organisationen
Gestaltungsmacht – Die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen
Es bedeutet, die Chance zu haben, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen. In Organisationen heißt das: Entscheidungen treffen können, die strukturelle Wirkung haben.
Das Problem: Viele Führungskräfte haben formale Rollen, aber keine reale Gestaltungsmacht. Die Verantwortlichkeit bleibt bei ihnen hängen – die Macht liegt woanders.
Soziale Konstruktion – Macht ist relational
Keine Person „hat" Macht allein. Es geht immer um Beziehung und Austauschbarkeit. Wenn ich als Mitarbeiter weniger austauschbar bin als mein Chef, bin ich – entgegen der Hierarchie – der Mächtigere.
Auch hier das Problem: Wenn Macht nicht offen verhandelt wird, verschiebt sie sich in informelle Kanäle. Dann entscheiden nicht Rollen und Kompetenzen, sondern Nähe zu Entscheidern oder persönliche Netzwerke. Das macht Verantwortung intransparent und beliebig.
Drei Konsequenzen für die Praxis
Macht explizit machen: Sprechen Sie in Organisationen offener darüber, wer welche Gestaltungsmacht hat. Nicht als moralisches Problem, sondern als Notwendigkeit. Wer entscheidet über Budget? Über Struktur? Klären Sie diese Fragen gemeinsam. Vertrauen Sie nicht blind dem Organigramm.
Machtlosigkeit als Risiko erkennen: Der Mangel an Macht ist genauso gefährlich wie ihr Missbrauch. Führungskräfte, die Verantwortlichkeit übernehmen sollen, aber keine Gestaltungsmacht haben, brennen aus oder werden zynisch. Organisationen müssen Macht verleihen. Sie dürfen Verantwortlichkeit nicht nur übertragen.
Rollenkompetenz als Basis: Menschen brauchen die Fähigkeit, zwischen ihrer Person und ihrer Rolle zu differenzieren. Nur wer Rollendistanz hat, kann Macht funktional nutzen. Wer das nicht kann, versteht Macht als persönliche Kränkung bei Machtlosigkeit – oder als narzisstische Befriedigung bei Machtgewinn.
Fazit: Verantwortung ist mehr als eine Forderung
Verantwortung lässt sich nicht verordnen. Sie entsteht im Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die ineinandergreifen müssen:
Verantwortung beginnt mit Fragen, nicht mit Antworten.
Sie ist die Fähigkeit, sich selbst und das System kritisch zu beobachten. Wer aufhört zu fragen, hört auf, verantwortlich zu handeln. Die unbequeme Wahrheit: Klare Antworten beenden das Denken – und damit die Verantwortung.
Verantwortung ist nicht gleich Verantwortlichkeit.
Diese Verwechslung führt zu den meisten Problemen in der Delegation. Verantwortlichkeit lässt sich zuweisen – Verantwortung nicht. Nur wer diesen Unterschied versteht und beide Dimensionen klar kommuniziert, kann erfolgreich delegieren.
Verantwortungsübernahme braucht vier Zutaten.
Wollen, Können, Dürfen und Sollen müssen geklärt sein. Fehlt eine Zutat, scheitert die Verantwortungsübernahme. Wer will, aber nicht darf, resigniert. Wer soll, aber nicht kann, scheitert. Verantwortung ist kein einmaliger Akt, sondern ein kontinuierlicher Dialog.
Rollenkompetenz schützt beide Seiten.
Die Fähigkeit, zwischen Person und Rolle zu unterscheiden, ist zentral. Wer Person und Rolle vermischt, macht sich abhängig – von Anerkennung, von Bestätigung, von Macht. Organisationen können nicht geben, was Menschen auf persönlicher Ebene suchen. Rollendistanz schafft Freiheit und schützt die psychische Gesundheit.
Macht ist nicht das Problem – Machtlosigkeit ist es.
Verantwortung ohne Gestaltungsmacht ist moralische Überforderung. Macht ohne Verantwortung ist Willkür. Solange Organisationen Macht tabuisieren und nicht offen darüber sprechen, wer welche Entscheidungsbefugnisse hat, bleibt Verantwortung ein hohler Appell.
Die fünf Perspektiven zeigen: Verantwortung ist komplex. Sie lässt sich nicht auf Motivation oder guten Willen reduzieren. Sie erfordert klare Strukturen, offene Kommunikation und die Bereitschaft, unbequeme Themen wie Macht anzusprechen. Erst dann wird aus der Forderung „Übernehmen Sie mehr Verantwortung!" eine Einladung, die Menschen annehmen können – und wollen.