Übe moralische Standfestigkeit: Unbestechlichkeit ist keine Charakterfrage – sie ist ein Trainingsfeld.
Verantwortung tragen heißt Entscheidungen treffen. Doch je weiter oben im System, desto verschwommener werden oft die Linien. Nicht jede Einflussnahme ist eindeutig als „Bestechung“ zu erkennen. Ein lukratives Geschenk? Ein keiner Gefallen? Ein Kompromiss zum „richtigen Zeitpunkt“? Die Grauzonen sind vielfältig – und gerade deshalb gefährlich.
Unbestechlichkeit beginnt nicht mit dem lauten „Nein“, sondern mit einem leisen „Moment mal …“. Wer integritätsbasiert handeln will, braucht Räume, in denen genau dieses Innehalten geübt wird. Räume, in denen Menschen moralische Ambiguität aushalten, reflektieren und einordnen lernen – im geschützten Miteinander.
Die Methode: Dilemma-Dialoge im Team
Eine wirksame Methode, um Unbestechlichkeit präventiv wie auch retrospektiv zu fördern, sind regelmäßig angeleitete Dilemma-Dialoge. Dabei besprechen Teams konkrete Fälle aus der eigenen Praxis, in denen Wertekonflikte spürbar wurden – ohne sie vorschnell zu lösen.
Die Idee: Nicht die moralische Bewertung steht im Vordergrund, sondern die gemeinsame Auseinandersetzung mit inneren Spannungen. In diesen Dialogen trainieren Führungskräfte und Teams, genau hinzusehen, Ambivalenz auszuhalten und differenzierter zu argumentieren. Es geht nicht um Schwarz oder Weiß – sondern um das gemeinsame Aushandeln eines stimmigen Grautons.
Dilemma-Dialoge sind keine Ethik-Schulungen. Sie sind Erfahrungsräume, in denen Menschen sich mit ihrer eigenen Haltung verbinden – und der ihrer Kolleg*innen. Wer sich in geschütztem Rahmen bereits mit Zwiespalt auseinandergesetzt hat, kann in realen Entscheidungssituationen schneller und klarer reagieren.
Der Dilemma-Dialog in 5 Schritten
1. Setting schaffen (5–10 Min)
Klare Einladung: „Heute reflektieren wir gemeinsam eine Entscheidungssituation mit ethischer Spannung.“
Rahmen klären: Vertraulichkeit, keine Bewertung, jede Perspektive zählt
Psychologische Sicherheit betonen („Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um Verstehen“)
2. Fall schildern (5 Min)
Eine reale, anonymisierte oder hypothetische Situation aus dem Teamkontext darstellen
Fokus auf das Dilemma: zwei gegensätzliche Handlungsimpulse, kein klarer Lösungsweg
Beispiel: „Ein wichtiger Kunde erwartet eine Gefälligkeit, die formal nicht erlaubt ist.“
3. Stimmen sammeln (10–15 Min)
Was spricht für Entscheidung A? Was für B?
Welche inneren Stimmen oder Werte stehen sich gegenüber?
Optional: Arbeit mit dem „Inneren Team“ (z. B. Pflichtbewusstsein vs. Loyalität)
4. Reflexion leiten (10–15 Min)
Was macht diese Entscheidung so schwierig?
Was wäre der Preis für die eine, was für die andere Richtung?
Welche langfristigen Folgen wären zu erwarten?
5. Transfer sichern (5–10 Min)
Was lernen wir aus dieser Situation für ähnliche Fälle?
Welche Prinzipien können uns künftig Orientierung geben?
Wer könnte künftig Sparringspartner*in für solche Fragen sein?
Die Wirkung: Innere Haltung wird kollektive Kultur
Unbestechlichkeit ist keine Compliance-Checkliste. Sie ist eine Form der inneren Klarheit, die sich im täglichen Handeln zeigt – oder eben nicht. Führungskräfte, die regelmäßig an Dilemma-Dialogen teilnehmen, berichten, dass sie in kritischen Momenten schneller ins Bewusstsein kommen: „Das fühlt sich nicht mehr sauber an.“
Über die Zeit verändert sich auch das kollektive Klima: Teams werden sensibler, achtsamer, ehrlicher – ohne moralischen Zeigefinger. Unklare Situationen werden nicht mehr verdrängt, sondern gemeinsam reflektiert. Das schafft Vertrauen. Und dieses Vertrauen ist das beste Fundament für echte Integrität.