Ethical Leadership: Von der Tugend zur Kultur – Führungskräfte als Hebel für die strukturelle Verankerung von Werten wie Unbestechlichkeit
Unbestechlichkeit – ein unterschätzter Wert im Arbeitsalltag
Dass PolitikerInnen, RichterInnen oder Vorstände unbestechlich sein sollten, erscheint uns selbstverständlich. Aber was bedeutet Unbestechlichkeit im Kleinen – in der Praxis unseres ganz normalen Arbeitsalltags?
Was ist zum Beispiel, wenn eine Kollegin vorschlägt, den neuen Praktikanten doch etwas besser zu bewerten – „weil der ja über die Frau vom Chef kam“? Oder wenn in einem Meeting alle schweigen, obwohl eine Entscheidung offensichtlich gegen die gemeinsamen Unternehmenswerte geht, aber schneller und günstiger scheint?
Unbestechlich zu handeln, heißt in diesen Momenten nicht, heldenhaft zu sein. Es bedeutet vielmehr, unabhängig zu bleiben: von Karriereversprechen, von Zugehörigkeit, vom Wunsch, gemocht zu werden. Es geht darum, integer zu handeln – auch dann, wenn niemand zusieht. Und genau das ist herausfordernd: weil es Mut, Selbstreflexion und eine klare Haltung braucht.
Gleichzeitig ist Unbestechlichkeit enorm wirksam. Sie schafft Vertrauen – in Menschen, in Führung, in Organisationen. Sie stärkt unsere Glaubwürdigkeit, auch über Hierarchien hinweg. Und sie hat das Potenzial, Kultur zu prägen – sofern sie nicht nur individuell gedacht wird, sondern auch strukturell.
Denn Unbestechlichkeit gedeiht nicht im luftleeren Raum. Sie braucht Umfelder, in denen sie nicht nur möglich, sondern gewollt ist. In denen klar ist, dass Fairness mehr zählt als Gefälligkeiten – und dass man Dinge sagen darf, ohne Repressalien zu fürchten. Hier kommt ein zentraler Faktor ins Spiel: Führung.
Ethical Leadership: Integrität wird vorgelebt, nicht verordnet
Unbestechlichkeit im Arbeitsalltag lässt sich nicht durch Leitbilder oder Compliance-Regeln allein sicherstellen. Sie wird dann wirksam, wenn sie von Führungspersönlichkeiten authentisch verkörpert und konsequent unterstützt wird. Genau das beschreibt der Ansatz Ethical Leadership – ein Führungsstil, der moralisches Verhalten nicht nur einfordert, sondern selbst vorlebt.
Geprägt wurde das Konzept unter anderem von Michael E. Brown und Linda K. Treviño, die Ethical Leadership als die „demonstration of normatively appropriate conduct through personal actions and interpersonal relationships, and the promotion of such conduct to followers“ definieren. Ethisch führende Personen setzen also klare moralische Standards, treffen transparente Entscheidungen und schaffen ein Klima, in dem Werteorientierung nicht nur geduldet, sondern gefördert wird.
In der Praxis zeigt sich Ethical Leadership etwa durch konsistentes, glaubwürdiges Handeln, durch eine offene Fehler- und Feedbackkultur oder durch das aktive Ermutigen von moralischem Mut – also dem Ansprechen von Problemen auch dann, wenn es unbequem ist. Führungskräfte mit diesem Stil machen klar: Unbestechlichkeit ist nicht optional. Sie ist erwünscht – und wird unterstützt.
Ein klarer Rahmen für Ethical Leadership wird durch sechs zentrale Prinzipien gebildet, die von der Harvard Division of Continuing Education veröffentlicht wurden. Diese Prinzipien verdeutlichen, wie ethische Führung im Alltag umgesetzt werden kann:
Respekt: Gegenseitige Wertschätzung fördert gesunde und vertrauensvolle Beziehungen im Team.
Praxisbeispiel: Führungskräfte hören aktiv zu, nehmen die Meinungen der Mitarbeitenden ernst und fördern eine offene Feedback-Kultur.
Verantwortlichkeit: Führungskräfte stehen zu ihrem Handeln und geben durch ihr Verhalten Orientierung.
Praxisbeispiel: Fehler werden offen kommuniziert, Verantwortung wird übernommen, statt Schuldzuweisungen zu machen.
Dienst am Gemeinwohl: Entscheidungen werden im Interesse von Mitarbeitenden, KundInnenund der Gesellschaft getroffen.
Praxisbeispiel: Soziale Initiativen werden unterstützt und Mitarbeitende werden ermutigt, sich ehrenamtlich zu engagieren.
Ehrlichkeit und Transparenz: Offene Kommunikation schafft Vertrauen und stärkt die Glaubwürdigkeit.
Praxisbeispiel: Unternehmensentscheidungen werden klar und zeitnah kommuniziert, auch wenn sie unangenehm sind.
Gerechtigkeit: Faire Behandlung aller Mitarbeitenden sorgt für ein gerechtes und inklusives Arbeitsumfeld.
Praxisbeispiel: Beförderungen und Gehaltsentscheidungen erfolgen auf Basis klarer, nachvollziehbarer Kriterien.
Gemeinschaft: Das Unternehmen wird als inklusives Netzwerk verstanden, das Zusammenarbeit und Zusammenhalt fördert.
Praxisbeispiel: Teamübergreifende Projekte und soziale Veranstaltungen stärken den Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl.
Warum Unternehmen davon profitieren
Organisationen, in denen Unbestechlichkeit strukturell verankert ist, haben nicht nur ein moralisches Fundament, sondern auch einen klaren Wettbewerbsvorteil. Denn ethisch geführte Unternehmen profitieren mehrfach:
Studien zeigen, dass sie weniger Skandale und Risiken erleben, weil sie über ein internes „ethisches Immunsystem“ verfügen, das frühzeitig auf problematische Entwicklungen reagiert. Sie genießen mehr Vertrauen – intern wie extern – denn Fairness schafft Loyalität, Offenheit und Engagement
Sie fördern psychologische Sicherheit und damit Innovationskraft, weil Mitarbeitende sich trauen, Ideen und Zweifel zu äußern. Und sie profitieren von langfristiger Performance, etwa durch geringere Fluktuation, bessere Zusammenarbeit und motiviertere Teams (vgl. Brown & Treviño, 2006).
Warum auch Mitarbeitende profitieren
Ethical Leadership wirkt nicht nur nach außen – es entfaltet seine größte Kraft oft nach innen. Wenn Führungskräfte klar, werteorientiert und transparent handeln, schafft das ein Arbeitsumfeld, in dem sich Mitarbeitende sicher fühlen, ihre Meinung zu sagen, Fragen zu stellen oder auf Missstände hinzuweisen. Genau das beschreibt das Konzept der psychologischen Sicherheit: das Vertrauen darauf, dass man sich zeigen darf, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen.
Diese Sicherheit ist eine zentrale Grundlage für Lernbereitschaft, Kreativität und echte Zusammenarbeit. Mitarbeitende trauen sich eher, neue Ideen einzubringen, Fehler einzugestehen oder offen Kritik zu äußern – nicht aus Trotz, sondern aus Verantwortungsgefühl. Das steigert nicht nur die Qualität von Entscheidungen, sondern auch das individuelle Wohlbefinden.
Doch nicht nur das: Studien zeigen, dass ethisch geführte Organisationen mit höherer Arbeitszufriedenheit, mehr intrinsischer Motivation, weniger Burnout-Symptomen und stärkerem Engagement rechnen können. Mitarbeitende erleben sich als gesehen, ernst genommen und respektiert. Das stärkt ihre Bindung an die Organisation und reduziert Wechselabsichten. Auch prosoziales Verhalten wie Kolleg*innen zu unterstützen, Verantwortung zu übernehmen oder freiwillig über das Erwartete hinauszugehen, nimmt unter ethischer Führung nachweislich zu.
Gerade jüngere Generationen wie die Gen Z formulieren diese Erwartungen immer deutlicher. Für viele Berufseinsteiger*innen ist ein wertebasiertes Umfeld kein „Nice-to-have“, sondern eine Grundbedingung: Sie wollen nicht nur funktionieren, sondern mitgestalten, Verantwortung übernehmen und sich mit dem identifizieren können, wofür ihr Unternehmen steht. In diesem Sinne wird Ethical Leadership auch zu einer Antwort auf den Wertewandel in der Arbeitswelt – und zu einem echten Wettbewerbsfaktor im Kampf um Talente.
Kurz gesagt: Wer in einem Umfeld arbeitet, in dem Integrität zählt – und nicht bloß strategische Anpassung –, entwickelt nicht nur mehr Vertrauen, sondern auch mehr Lust, sich einzubringen. Ethical Leadership ist also nicht nur gut fürs Geschäft, sondern auch gut für die Menschen, die es tragen.
Quellen:
Brown, M. E., Treviño, L. K., & Harrison, D. A. (2005). Ethical Leadership: A Social Learning Perspective for Construct Development and Testing. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 97(2), 117–134. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2005.03.002
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Harvard Division of Education. (2023). The 6 Main Principles of Ethical Leadership. Harvard University. [Online] Verfügbar unter: https://example.harvard.edu/ethical-leadership-principles (Zugriff am 19.06.2025)
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Resick, C. J., Hargis, M. B., Shao, P., & Dust, S. B. (2013). Ethical Leadership, Moral Equity Judgments, and Discretionary Workplace Behavior. Human Relations, 66(7), 951–972. https://doi.org/10.1177/0018726712464322
Trevino, L. K., Hartman, L. P., & Brown, M. (2000). Moral Person and Moral Manager: How Executives Develop a Reputation for Ethical Leadership. California Management Review, 42(4), 128–142. https://doi.org/10.2307/41166057