Paradoxie-Grid: Mit gegensätzlichen Werten produktiv arbeiten
Teams stecken oft in Konflikten fest, die wie unlösbar erscheinen. Die einen wollen bewahren, die anderen innovieren. Die einen wollen schnell entscheiden, die anderen alle einbeziehen. Die einen setzen auf Vertrauen, die anderen auf Kontrolle.
Die gute Nachricht: Diese Konflikte sind normal. Sie entstehen aus Paradoxien – Gegensätzen zwischen Werten, die beide ihre Berechtigung haben. Das Problem ist nicht der Wertekonflikt selbst, sondern dass Teams nicht erkennen, dass sie in einer vorhersagbaren Dynamik feststecken.
Das Paradoxie-Grid macht Wertekonflikte sichtbar und hilft Teams, bewusst mit gegensätzlichen Werten umzugehen, statt in endlosen Schleifen zu kreisen.
Wann ist diese Methode sinnvoll?
Wenn sich das Team in zwei Lager mit unterschiedlichen Werten gespalten hat
Wenn dieselben Diskussionen immer wieder aufkochen
Wenn Entscheidungen getroffen, aber nicht umgesetzt werden
Wenn ein Teil des Teams bremst und der andere drängelt
Wenn Veränderungsvorhaben in Hin-und-Her-Bewegungen stecken bleiben
Was braucht ihr?
Zeit: 90-120 Minuten
Teilnehmende: Das gesamte Team (optimal 6-12 Personen)
Material: Flipcharts oder digitales Whiteboard, Stifte, Moderationskarten
Raum: Platz für Kleingruppenarbeit
So geht’s: Schritt für Schritt
Schritt 1: Paradoxie und Werte einführen (10 Min.)
Erklärt dem Team kurz, was eine Werte-Paradoxie ist:
“Eine Werte-Paradoxie ist ein Gegensatz zwischen zwei Werten, die beide wichtig sind, aber nicht gleichzeitig gelebt werden können. Zum Beispiel: Der Wert ‘Innovation’ steht dem Wert ‘Bewahrung’ gegenüber. Beide Werte haben ihre Berechtigung, beide haben ihre Schattenseiten. Teams geraten oft in Schleifen, weil verschiedene Menschen unterschiedliche Werte vertreten – und jeder denkt, sein Wert sei der ‘richtige’.”
Benennt gemeinsam die Werteparadoxie, die gerade im Team spürbar ist. Typische Werteparadoxien in Teams sind: Innovation ↔ Bewahrung; Schnelligkeit ↔ Gründlichkeit; Autonomie ↔ Abstimmung; Vertrauen ↔ Kontrolle oder Stabilität ↔ Flexibilität.
Schritt 2: In Kleingruppen aufteilen (30 Min.)
Teilt das Team in zwei Gruppen. Jede Gruppe bekommt einen Wert der Paradoxie zugeteilt.
Arbeitsauftrag für beide Gruppen:
1. Sammelt, warum dieser Wert wichtig ist
Welche positiven Aspekte hat dieser Wert?
Was ermöglicht er?
Was würde fehlen, wenn wir diesen Wert vernachlässigen?
Wann ist dieser Wert besonders wertvoll?
2. Sammelt die Schattenseiten dieses Werts
Welche Risiken birgt dieser Wert, wenn er übertrieben wird?
Was kann schiefgehen?
Welchen anderen wichtigen Wert verdrängt er möglicherweise?
Welche negativen Nebeneffekte kann er haben?
3. Identifiziert, wer welche Werte vertritt
Wer im Team vertritt eher diesen Wert?
Wer vertritt eher den Gegenwert?
Gibt es auch Menschen, die beide Werte gleichermaßen wichtig finden?
Schritt 3: Präsentation im Plenum (30 Min.)
Die Gruppen stellen ihre Ergebnisse vor (hier ein Beispiel für das ausgefüllte Grid):
Wichtig:
Es geht nicht darum zu gewinnen, sondern die gesamte Wertelandschaft sichtbar zu machen. Beide Werte sind legitim.
Schritt 4: Reflexion und Dialog (20 Min.)
Moderiert ein Gespräch mit diesen Leitfragen:
Was fällt euch auf, wenn ihr beide Werte nebeneinander seht?
Wo stecken wir gerade in der Schleife?
Welcher Wert dominiert aktuell unser Handeln?
Was ist die Folge davon – leben wir schon die Schattenseite dieses Werts?
Welchen Wert brauchen wir in unserer aktuellen Situation stärker?
Wie können wir den anderen Wert würdigen, auch wenn wir ihn gerade zurückstellen?
Kernbotschaft:
Beide Werte sind wichtig und berechtigt. Die Frage ist nicht “Welcher Wert ist der richtige?”, sondern “Welchen Wert brauchen wir jetzt und bezogen auf welches Thema?” und “Wie gehen wir bewusst mit dem Gegenwert um?”
Schritt 5: Entscheidung und Konsequenzen (20 Min.)
Trefft eine bewusste Entscheidung:
Welchen Wert wollen wir aktuell stärker gewichten?
Wie lange? (Zeitrahmen festlegen!)
Welche Schattenseiten dieses Werts nehmen wir bewusst in Kauf?
Wie würdigen wir den anderen Wert und halten ihn im Blick?
Wann überprüfen wir die Wertebalance?
Das Ergebnis
Werte-Entscheidung: Für die nächsten 6 Monate setzen wir den Schwerpunkt auf den Wert Wandel (70/30).
Konkret heißt das:
Wir investieren 20% unserer Zeit in Experimente
Wir erlauben uns, 2 von 10 Experimenten scheitern zu lassen
Wir dokumentieren Learnings systematisch
Wir halten monatliche Review-Meetings ab
Wir würdigen Mut und Risikobereitschaft explizit
Bewusste Schattenseiten, die wir in Kauf nehmen:
Manche bewährte Features werden langsamer weiterentwickelt
Einige Kunden müssen länger auf gewohnte Updates warten
Die Fehlerquote steigt vorübergehend um ca. 15%
Einige Teammitglieder fühlen sich unsicherer
Den Wert Beständigkeit halten wir im Blick durch:
Keine Experimente in kritischen Kernfunktionen
Ein Teammitglied ist “Guardian of Quality” und repräsentiert den Wert Bewahrung
Bei jedem Sprint fragen wir: “Was müssen wir bewahren?”
Wir würdigen ausdrücklich, wenn jemand auf Risiken hinweist
Wir sagen klar: “Bewahrung ist kein minderwertiger Wert, wir brauchen ihn nur gerade weniger stark”
Review-Termin: In 6 Monaten überprüfen wir die Wertebalance neu.
Was das bewirkt
Entlastung: Wertekonflikte werden nicht mehr persönlich genommen. Das Team erkennt: “Wir vertreten unterschiedliche, aber gleichermaßen berechtigte Werte.”
Klarheit: Statt verdecktem Widerstand gibt es offene Diskussion über Werte, ihre Stärken und ihre Schattenseiten.
Akzeptanz: Wer “verliert”, fühlt sich gehört. Der eigene Wert wird anerkannt, auch wenn er gerade zurücktritt.
Würdigung: Beide Werte werden als legitim anerkannt – keiner ist “besser” oder “richtiger”.
Beweglichkeit: Das Team kann bewusst die Wertepriorität verschieben, statt in endlosen Wertekonflikten festzustecken.
Reife: Das Team entwickelt die Fähigkeit, mit Wertekomplexität und Widersprüchen konstruktiv umzugehen.
Häufige Stolpersteine
“Mein Wert ist objektiv richtig.” → Paradoxien haben keine objektiv richtigen Werte. Beide Werte sind legitim UND können übertrieben werden.
“Wir müssen beide Werte gleich stark leben.” → Nicht 50/50 anstreben, sondern bewusst einen Wert stärker gewichten – für einen bestimmten Zeitraum.
“Die andere Seite sabotiert.” → Wahrscheinlich vertritt sie unbewusst den vernachlässigten Wert. Das ist wertvoll, nicht schädlich.
“Wir sind uns über die Werte einig.” → Bei echten Werteparadoxien gibt es immer Spannung. Zu schnelle Einigkeit deutet auf Scheinkonsens hin.
“Der andere Wert ist weniger wichtig.” → Gefahr! Beide Werte sind gleichwertig. Wir gewichten sie nur zeitweise unterschiedlich.
Fazit
Was nicht benannt wird, kann sich nicht verändern. Das Paradoxie-Grid macht sichtbar, welche Werte im Team aufeinandertreffen – und öffnet damit den Raum für echte Entwicklung und bewusste Werteentscheidungen.