Leben in Vielfalt - Zwischen zu viel und zu wenig Toleranz
Mehr oder weniger divers Leben?
Durch gesteigerte Mobilität und verstärkte Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten treffen heute an vielen Orten der Welt genauso wie in Deutschland Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen aufeinander. Gleichzeitig führt eine individualisierte Lebensgestaltung und pluralistische Lebensformen in Familien zu immer vielfältigeren und diversen Lebensentwürfen. In einer demokratischen Gesellschaft sollten alle Menschen und Lebensentwürfe und damit einhergehende Werte, Einstellungen und Meinungen gleichberechtigt nebeneinanderstehen dürfen, solange sie die demokratische Ordnung nicht gefährden.
Gleichzeitig sind im Angesicht von mehreren Landtagswahlen und der Europawahl in diesem Jahr Parteien im Umfragehoch, die sich durch ihre Forderungen insbesondere durch Intoleranz auszeichnen. Menschen mit Migrationshintergrund werden grundsätzlich für innenpolitische Probleme verantwortlich gemacht, die Forderung nach traditionellen Lebens- und Familienformen findet Ausdruck in der Abwertung von Homosexuellen und Transpersonen sowie einer geforderten Besserstellung der „traditionellen Familie“ mit einer Hausfrau und Mutter. Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war bisher die im Januar von Correctiv veröffentlichte Recherche zu einem Treffen von unter anderem Neonazis und hochrangigen AfD-Politiker:innen, wobei eine Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland besprochen wurde, die für die Anwesenden nicht zu „Ihrem Deutschland“ dazuzugehören scheinen.
Das Ertragen
In Reaktion auf diese Recherche trafen sich in deutschen Städten Millionen Menschen, um unter anderem für mehr Toleranz einzustehen. Doch sollte die Forderung tatsächlich die nach mehr Toleranz sein? Betrachtet man die ursprüngliche Wortbedeutung, die sich aus dem Lateinischen (tolerare = etwas ertragen, aushalten, erdulden) ableitet, so heißt Toleranz eigentlich Duldsamkeit. Diese setzt allerdings voraus, dass es überhaupt etwas Negatives gibt, dass wir zu erdulden bereit sein sollen. An der medizinischen Verwendung wird das sogar noch deutlicher: Hier steht Toleranz für die Widerstandfähigkeit eines Organismus gegen vor allem Giftstoffe und Strahlung, bevor der Körper langfristige Schäden zu erleiden hat.
Heute verstehen Manche Toleranz eher als ein Nicht-Verurteilen auch bei anderer Einstellung. Diese Toleranz kann gegenüber Lebensstilen, Religion, sexueller Orientierung, Weltanschauung und vielem mehr existieren. Diese Bedeutung schließt allerdings die initiale Bewertung als anders und störend nicht aus.
Toleranz vs. Akzeptanz
Dennoch müssen wir uns verdeutlichen, dass der Begriff der Toleranz sehr unterschiedlich verstanden werden kann. Für viele ist Toleranz positiv. Doch erleben gerade die Tolerierten dieses Erdulden: Sie werden zwar als in irgendeiner Form schlechter, untypisch oder störend bewertet, eine Mehrheitsgesellschaft ist aber bereit, dies zu ertragen im Sinne eines friedlichen Miteinanders. Ihnen werden wie zum Beispiel bei der gleichgeschlechtlichen Ehe zwar gewisse Rechte eingeräumt, spätestens bei Adoption und Sorgerecht zeigt sich aber, dass diese Ehe nicht mit der „normalen Ehe zwischen Mann und Frau“ gleichgestellt ist und damit dennoch die Mehrheitsgesellschaft oder eine Autorität entscheidet, wo Rechte wieder aufhören. Dadurch kann eine betonte Toleranz auch Machtgefälle verstärken oder manifestieren, weil für viele Menschen nach Erreichen von Toleranz kein Handlungsbedarf mehr gesehen wird. Dabei fordern gerade die Tolerierten statt Toleranz Akzeptanz. Dies würde bedeuten, dass sie und ihre Lebenswelt als gleichberechtigt anerkannt werden und damit gleiche Behandlung und gleiche Rechte einhergehen würden. Auch würde diese Forderung beinhalten, ihre Lebensrealität, auch wenn sie geduldet wird, nicht als schlechter zu bewerten.
Ist dann vielleicht ein erster Schritt, von den heute Intoleranten zunächst Toleranz zu fordern, aber immer darauf hinzuweisen, dass nach dem Akzeptieren des Störgefühls diesem auf den Grund gegangen werden sollte: Warum habe ich das Gefühl, durch eine andere Person und ihre Lebensrealität etwas erdulden zu müssen? Denn alleine sich dessen bewusst zu sein kann eventuell ein erster Schritt hin zu Akzeptanz sein. Es braucht die Erkenntnis, dass bei Toleranz für ein gesellschaftliches Miteinander der erste Schritt gemacht wurde, der Weg aber noch lange nicht vorbei ist.
Das Paradoxon der Toleranz
Toleranz sollte eigentlich nicht gegenüber Individuen stattfinden, sondern gegenüber Meinungen. So ist eine Meinung meines Gegenübers, der ich nicht zustimme und die ich vielleicht auch ablehne tatsächlich etwas, dass ich in einer demokratischen Gesellschaft aushalten muss. Doch es muss auch Grenzen der Toleranz geben. So sagte schon der österreichische Philosoph und Begründer des Toleranz-Paradoxons Karl Popper: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz.“
Kern seiner Forderung ist die Intoleranz gegenüber Intoleranten, da hier uneingeschränkte Toleranz dazu führen würde, auch Angriffe auf eine demokratische und tolerante Gesellschaft zu ertragen, obwohl diese argumentativ verteidigt werden sollte. Zwar darf Intoleranz stets nur das letzte Mittel sein, am Beispiel der AfD und anderer rechtsextremistischer Vereinigungen lässt sich die Notwendigkeit aber gut erklären: Es werden nicht nur Meinungen gegen andere Kulturen, Lebensstile oder Menschen mit Migrationshintergrund geäußert, sondern es wird aktiv angedroht, die Handlungsfreiheit dieser Menschen einzuschränken, wie bei einer Umsetzung der geforderten Abschiebepläne. Wenn andere Personen gegenüber dieser Meinung und Androhung tolerant wären, würde das gesamtgesellschaftlich zu einer immer geringeren Toleranz führen, da sich die Intoleranz immer weiter normalisiert.
Eine gute Intoleranz
Häufig wird gefordert, Toleranz muss dort aufhören, wo Menschen verletzt werden, also zum Beispiel unter Diskriminierung leiden. Doch auch hier ist es wichtig zu differenzieren. Während sich die Intoleranz rechter Gruppen häufig gegen ganze Personengruppen wie „Die Ausländer“ oder „Die Muslime“ richtet und damit gegen Menschen, sollte Intoleranz genauso wie Toleranz vor allem gegen Meinungen geäußert werden. Nicht der Mensch sollte verurteilt werden, sondern lediglich seine diskriminierende Handlung.
Die Forderung sollte also eigentlich heißen: „Akzeptanz gegenüber Menschen, ihren Lebensstilen, ihren Hintergründen, ihrer Sexualität und ihren Entscheidungen. Manchmal ist dafür das Auseinandersetzen mit eigenen Störgefühlen und damit sehr viel Selbstreflexion notwendig. Gleichzeitig muss hinterfragt werden, ob ich einzelne Handlungen oder Meinungen, die meinen Überzeugungen entgegenstehen, ertragen kann oder diese andere verletzen und damit der Intoleranz bedürfen. Das allerdings prägnant auf ein Demo-Plakat zu schreiben, wird vermutlich schwierig.